TOUR DE FRANCE FIEBER – KAMPF DER TITANEN

Als die Tour de France 2024 angekündigt wurde, sprach jeder sofort von dem großen Kampf, der zwischen den Phänomenen Tadej Pogačar, Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel und Primož Roglič stattfinden würde. Die drei Letztgenannten stürzten jedoch bei der Baskenland-Rundfahrt schwer und mussten feststellen, dass ihre geplante Vorbereitung von Anfang an ins Wasser fiel.

Sie befanden sich in der Reha, während Pogačar in Lüttich-Bastogne-Lüttich die Sterne des Himmels ritt und dann den Giro d’Italia in Merckxscher Manier gewann, wobei er sogar mit angezogener Handbremse zu fahren schien. Es war, als ob er alle im Spar-/Trainingsmodus nach Hause fuhr, und es macht den Eindruck, dass dieser Giro ihn keineswegs zermürbt hat, im Gegenteil, er hat ihn viel besser gemacht. Da stellt sich sofort die Frage: Wer macht was mit ihm?

Aber ist diese Frage angebracht? Schließlich geht es um das Gelbe Trikot bei der Tour de France, dem am härtesten umkämpften Rennen des Jahres, bei dem bei jeder Ausgabe immer etwas passiert, womit man nicht rechnet. Der Kampf um das Gelbe Trikot wird knallhart und ganz anders als beim Giro d’Italia, wo die Konkurrenz – bei allem Respekt für Pogačars Leistung – ohnehin ziemlich schwach war. Wir wägen die Chancen der Favoriten auf den Gesamtsieg ab.

Zwei Top-Favoriten + zwei echte Herausforderer und einige Schattenfavoriten

Tadej Pogačar

Der Slowene hat die letzten beiden Ausgaben der Tour gegen den Dänen Jonas Vingegaard verloren. Eigentlich müsste Tadej Pogačar also an zweiter Stelle in der Favoritenreihenfolge stehen. Doch wer ihn die ganze Saison und vor allem beim Giro beobachtet hat, weiß, dass er viel besser ist als in den beiden Vorjahren. Außerdem ist sein Team so stark wie nie zuvor. Oder wie wäre es mit einem Team mit Tadej Pogačar, Juan Ayuso, Joao Almeida, Adam Yates, Pavel Sivakov, Marc Soler, Nils Politt und Tim Wellens?
Anfang Juni schrieben wir im Cyclelive-Magazin Nr. 78, dass Pogačar für uns im Großen und Ganzen der Favorit Nummer eins ist.

Dass Pogi vor ein paar Tagen sagte, er habe sich noch nie so gut auf dem Rad gefühlt, unterstreicht das. Ein Gedankenspiel, das bereits zu seinen Gunsten entschieden zu sein scheint, denn nicht nur diese Worte, sondern sicherlich auch seine Beine haben in den letzten Monaten bereits mentale Zweifel bei seinen Konkurrenten gesät.

Jonas Vingegaard

Hätten Sie uns Ende März gefragt, wer der Top-Favorit für diese Tour ist, hätten wir Vingegaard an die Spitze gesetzt. Wie sein gesamtes Team schien er zu Beginn der Saison noch stärker zu sein als im Jahr 2023.
Vingegaards Saison begann, als er Ende Februar das spanische Etappenrennen O Gran Camiño vom Start bis zum Ziel dominierte und drei der vier Etappen sowie die Gesamtwertung gewann, wie schon 2023.

Auch bei Tirreno-Adriatico zeigte er seine Wunderbeine, als er die fünfte Etappe mit einer Solo-Attacke gewann. Der Däne setzte sich auf dem steilsten Teil des San Giacamo 29 Kilometer vor dem Ziel ab. Er gewann die Etappe mit mehr als einer Minute Vorsprung. Später gewann er auch die Etappe zum Monte Petrano, die das italienische Etappenrennen ausmachte, mit einem Vorsprung von 1’24”.

Als der Amerikaner Matteo Jorgenson bei Paris-Nizza Remco Evenepoel besiegte und sein Team auch die ersten Eintagesrennen für sich entschied, dachten wir sogar, sie seien in der Breite stärker als im Jahr zuvor. Bis die Fahrer von Visma – Lease a Bike plötzlich von einem Rückschlag zum nächsten fuhren und auch Vingegaard bei der Baskenland-Rundfahrt einen folgenschweren Sturz hinlegte. Kurz vor dem Start der Tour sieht es so aus, als ob die Rehabilitation sowohl von Vingegaard als auch von Wout van Aert gut verlaufen ist. Beide werden bei dieser Tour an den Start gehen, aber wie gut sie wirklich sein werden, ist noch ein Wunschtraum. Dass aus dem Umfeld Nebel versprüht wird, gehört sicher auch zum Spiel. Aber auch mit ‘sehr guter Form’ ist gegen einen ‘Super-Pogi’ wenig zu machen. Nicht ein sehr guter, sondern nur ein SU-PER Vingegaard könnte reichen, um den Slowenen zu schlagen. Kann Jonas noch rechtzeitig seine Alien Tour-Beine finden und wird es Alien gegen Alien und hart gegen hart sein? Wir hoffen es bereits!

Jonas Vingegaard in Tirreno-Adriatico 2024 © GM D'Alberto

Remco Evenepoel

Es wird die erste Tour-Erfahrung für Remco Evenepoel sein, der ein Soudal-Quick Step Team hinter sich hat, das in der Rundenarbeit etwas stärker ist als 2023. Aber wo wird Remco nach seinem Sturz im Baskenland stehen? Und wie weit wäre er ohne diesen Sturz im Vergleich zu den beiden Top-Favoriten gekommen? Über die tatsächlichen Qualitäten von Evenepoel als Tour-Fahrer können wir nur wenig sagen, und noch weniger über seine Qualitäten als Tour-Fahrer. Die Zeitfahren bei dieser Tour sind offensichtlich zu seinen Gunsten. Die Frage ist nur, wie er die schweren Bergetappen meistern wird. Wir sehen Remco in Paris um den dritten Platz auf dem Podium kämpfen.

Primož Roglič

Primož Roglič, der in diesem Jahr sein Jumbo-Visma-Radtrikot gegen ein Bora-Hans Grohe-Outfit getauscht hat, konnte uns zu Beginn der Saison noch nicht begeistern. Als auch er bei dem Mega-Crash im Baskenland stürzte, wurden die Fragezeichen nur noch größer. Wird er wirklich ein großer Herausforderer für die beiden großen Favoriten sein? Wir sehen ihn auf jeden Fall weit weg von Tadej und Jonas und glauben, dass er mit Remco um das Podium kämpfen wird. Aber auch Primož, der erfahrene und schlaue Fuchs, könnte uns gewaltig überraschen. Vergessen wir nicht, dass er im Baskenland als der am wenigsten ramponierte Favorit aus dem Sturz hervorgegangen ist. Vielleicht ist er der am besten vorbereitete Fahrer von allen, und nach dem Sturz haben er und Bora-Hans Grohe vor allem viel Nebel versprüht und uns Sand in die Augen gestreut. Zumindest in der Dauphiné lichtete sich dieser Nebel ein wenig, bis er in der Schlussetappe plötzlich wieder auftauchte.

Remco Evenepoel in Volta ao Algarve © Patrick Van Gansen

Außenseiter

Egan Bernal

Bernals Geschichte ist hinlänglich bekannt, und niemand hätte erwartet, dass er nach seinem beinahe tödlichen Unfall jemals wieder zu den Favoriten zählen würde. Wir zählen ihn sicherlich noch nicht zu den wirklichen Favoriten, aber Egan hat schon früh in der Saison einige schöne Dinge gezeigt, auch wenn er bei der Schweiz-Rundfahrt nicht ganz überzeugen konnte. Bernal könnte aber durchaus ein entscheidender Faktor im Hinblick auf den Gesamtsieg sein. Wer ihn an seiner Seite hat, könnte davon profitieren! Es wäre auf jeden Fall schön, ihn am Ende der Tour unter den ersten fünf zu sehen.

Matteo Jorgenson

Die Offenbarung der Saison ist zweifelsohne Matteo Jorgenson. Seit seinem Wechsel zu Jumbo | Lease a Bike hat er sich zu einem der besten Klassementfahrer bei den kleineren Rundfahrten entwickelt, wobei er auch bei den Klassikern gut abschneidet. Bei Paris-Nizza schlug er Remco Evenepoel und beim Critérium du Dauphiné musste er sich nur knapp Roglič geschlagen geben. Auf der letzten Etappe machte er seinen Rückstand von mehr als einer Minute fast wieder wett. Am Ende fehlten ihm nur acht Sekunden, um den Slowenen zu schlagen. Es wird vor allem davon abhängen, wie sich sein Leader Vingegaard in der ersten Woche fühlt, wie Jorgenson Schach spielen wird.

Kandidaten für die Top Ten

Drei weitere Kandidaten für die Top Ten finden sich im Team von Topfavorit Tadej Pogačar. Mit Juan Ayuso, der die Baskenland-Rundfahrt gewonnen hat, Adam Yates, der bei der letztjährigen Tour Dritter wurde, und João Almeida könnte das Team UAE durchaus mehrere Bauern in den Top Ten parken.

Auch bei den INEOS Grenadiers – Kriegern gibt es viele, die einen Spitzenplatz anstreben. Neben dem bereits erwähnten Egan Bernal wird auch Geraint Thomas seinen dritten Platz beim Giro mit einer guten Tour de France bestätigen wollen. Auch Carlos Rodriguez hatte in den letzten Monaten einen guten Lauf: Er gewann die Tour de Romandie und wurde Vierter bei der Dauphiné. Und mit etwas Chauvinismus zählen wir auch Laurens De Plus nach seinem fünften Platz bei der Dauphiné zu den Anwärtern auf die Top Ten, obwohl er mit ziemlicher Sicherheit nicht für eine Wertung zugelassen wird und sich aus dem Feld der Führenden herausradeln muss.

Und dann ist da für die Belgier noch Steff Cras. Der Pechvogel war der schwerste Verlierer der Baskenland-Rundfahrt, hat aber bei der Slowenien-Rundfahrt wieder großartige Leistungen gezeigt. Wenn sich das Puzzle ausnahmsweise einmal ganz ohne Pech zusammenfügt, ist auch Steff ein Kandidat für einen Top-Ten-Platz.

Zwei Belgier an der Spitze des Tour de France-Klassements? Das haben wir schon lange nicht mehr gesehen.

Und mit etwas mehr Sinn für Chauvinismus hoffen wir immer noch, dass es Remco sein wird, der am meisten überrascht und Belgien wieder auf die Tour-Landkarte bringt…

Text: Patrick van Gansen
Cover Picture: La Presse, Luca Bettini

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