REMCO BLEIBT REMCO!

Am 08. Mai 2021 standen 184 Radprofis am Start des 104. Giro d' Italia in Sizilien. Egan Bernal und Simon Yates wurden von der internationalen Presse als Top-Favoriten gehandelt, während in Belgien - sicherlich auch befeuert durch die eigene Entourage und das beispiellose Selbstbewusstsein - der Druck auf Remco Evenepoel bereits unmenschlich hoch war. Er könnte nach seiner Rehabilitation den Giro gewinnen oder zumindest auf dem Podium landen.

Auch wenn es sein erstes Rennen nach dem schrecklichen Sturz bei der Lombardei-Rundfahrt war, hörte der belgische Hype/Traum in den ersten Tagen des Giro, in denen Evenepoel dem späteren Sieger Bernal fast ebenbürtig zu sein schien, nicht auf. Am Ende – und das ist vielleicht auch gut für seine spätere Karriere – erwiesen sich die Gesetze des Radsports auch für Evenepoel als gültig. Nach einer Reihe von Etappen wurden seine Füße auf den Boden gestellt. Das war vielleicht nur der nächste Schritt in der Entwicklung dieses erstaunlichen Talents, das nach Meinung vieler einen viel zu unberechenbaren Charakter hat.

In dieser Saison, nach dem Tirreno-Adriatico und dem Brabantse Pijl – wo er sich bereits gut präsentierte – war er fast völlig geerdet. Vor allem in den sozialen Medien wurde die Kritik an der Person Remco Evenepoel auf die Spitze getrieben. Bis… dann plötzlich diese geniale ‘Remco-Ausbeute’ in Lüttich-Bastogne-Lüttich folgte. Sofort hingen alle an seinem Wort und er wurde wieder in den Himmel gelobt.

Es liest sich wie eine Geschichte aus einem Hollywood-Film, aber wie bedauerlich ist es nicht für die Menschheit insgesamt? Was sagt das über (einen Teil) unserer heutigen Gesellschaft aus?

Remco Evenepoel ist eine der wenigen Persönlichkeiten, die in allem, was er tut oder sagt, völlig PUURISCH ist. Sein ‘direkter, geradliniger’ Stil ist genau das, was ich bei anderen vermisse. So wie er fühlt, sieht und denkt, bringt Remco die Dinge für Kollegen/Presse/Außenseiter sehr ‘heiß’ auf den Tisch. Dass er deshalb viele Gegner hat, sagt genauso viel über diese Gegner aus wie über ihn selbst.

Bei Remco gibt es keine Heuchelei, kein nettes und zurückhaltendes Verhalten vor den Kameras, sondern ein ganz anderes Gesicht im Alltag hinter den Kameras. Kein erfundenes, sympathisches Getue, wenn die Kameras laufen. Nein, Remco ist Remco, manchmal schnell gereizt, aber korrekt, meist richtig in dem, was er sagt/zeigt, aber genauso gut kann er sich entschuldigen oder sehr schnell vergessen und verzeihen. Er ist oft sehr fröhlich, kann aber auch sehr wütend werden (ist das manchmal erlaubt?). Er trägt sein Herz auf der Zunge, plappert und kommt direkt zur Sache, ohne Geschichten, Süßholzraspelei und Zucker, um alle glauben zu lassen, wie perfekt er ist!

Dass er arrogant ist? Dass er von sich selbst überschwänglich ist? Das lässt sich leicht aufschreiben und erzählen.

Aber ein sehr selbstbewusster Mensch, der auch ehrlich sein Herz auf der Zunge trägt und sich traut, die Wahrheit und/oder seine eigene Meinung zu sagen, wird von schwächeren und/oder eifersüchtigen Persönlichkeiten, die dem von der Gesellschaft vorgesehenen Weg folgen, meist als arrogant oder “dickköpfig” bezeichnet.

Es ist daher völlig falsch, dass diese vorprogrammierte Gesellschaft ihm ständig die vorherrschenden Regeln vorgibt, “wie man sympathisch sein muss”. Dass die Welt ihn bereits dazu gebracht hat, einiges davon zu ändern. Man sieht, wie Remco jetzt seine Worte (zwangsweise) abwägen muss. Wie er vor dem Fernsehen und der Presse anders sprechen muss, wie der junge Remco jetzt eigentlich schon nicht mehr Remco sein darf! Wie man ihm beigebracht hat, dass ein 20- bis 22-jähriger ‘Hosenscheißer’ am besten schweigen, nicht mit den Armen fuchteln, nicht zu viel reden und deshalb, wie alle anderen, brav auf dem Weg gehen soll… Wie schade ist das nicht, dass er tatsächlich scheinheilig und realitätsfern durchs Leben gehen soll, weil die Gesellschaft es so will?

Wie kommt es, dass viele – oft ohne wirklich zu wissen, wovon sie reden – über andere urteilen, sie verurteilen und versuchen, ihnen den Kopf abzumähen, sobald jemand den Kopf aus dem Kornfeld streckt?

Liebe Leute, lasst Remco offen sagen, was er von den Dingen hält, die im Peloton vor sich gehen. Lasst ihn mit den Armen fuchteln, lasst ihn wütend sein, lasst ihn bedauern, was er falsch gemacht hat. Lasst ihn offen sein, damit er aus seinen Fehlern lernen und sich weiterentwickeln kann. Er soll verzeihen, vergessen, herausfordern, spielen und Leistung bringen. Lass ihn bluffen, Selbstvertrauen ausstrahlen und der Welt sagen, wie gut er sich fühlt! Lasst Remco, Remco sein!


Ich wünsche Ihnen allen viel Spaß beim Lesen der Ausgabe 69 des Cyclelive Magazins,

Patrick Van Gansen


Foto: © Presse Giro d’Italia – Remco Evenepoel auf dem Startpodium des Giro 2021

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