CHEFREDAKTEUR PATRICK VAN GANSEN MIT SEINER EIGENEN BETRACHTUNG DER TOUR DE FRANCE

Heute ist Ruhetag bei der Tour. Neun Etappen lang waren wir gefesselt von einem vielversprechenden Kampf zwischen den besten Fahrern der Welt. Vor dem Start hatten wir gehofft, dass es nach dem Horrorsturz im Baskenland doch noch - und zum ersten Mal - ein offener Kampf zwischen den vier großen Favoriten um den Gesamtsieg werden würde.

Roglič, Vingegaard, Pogačar und Evenepoel gegeneinander antreten zu sehen, wäre ein ziemliches Spektakel. Jetzt, am Ruhetag, möchten wir unsere eigene Sicht auf das, was war, und das, was kommen wird, darlegen. Wir tun dies völlig unabhängig von all den nützlichen, richtigen, interessanten, aber auch nutzlosen und langweiligen Artikeln und Zitaten, die über diese Tour und die Fahrer gesagt oder geschrieben werden. Denn seien wir mal ehrlich: In der Medienwelt wird viel Mist verkauft! Also machen wir entweder Blödsinn oder versuchen, das Ganze anders zu betrachten und zu beschreiben. Es bleibt dem Leser überlassen, auf welcher Seite wir mit diesem Artikel stehen.

"In der Medienwelt wird ein ziemliches Geschwätz verkauft"

Das Cavendish-Hollywood-Drehbuch

Dass Cavendish bereits nach der fünften Etappe den Rekord von Merckx an sich reißen konnte, war wie das Drehbuch eines kommerziellen Hollywood-Films, nur mit einer Apotheose, die zu früh im Szenario stattfand. Warum hättest du nicht bis zur letzten Etappe warten können, Cav? Das wäre eine noch größere Apotheose gewesen…. Alfred Hitchcock ist nicht umsonst zu einer Legende in der Welt des Kinos geworden, und er hat die Spannung immer bis zum letzten Moment hochgehalten. Es hätte dem ohnehin schon wunderbaren Hollywood-Film noch mehr Gütesiegel verliehen…. Für Cyclelive Magazine war dieser Sprintsieg vielleicht die bisher größte Überraschung, denn bei all der Sprintgewalt, die es bei dieser Tour gibt, hatten wir Cavs Chancen auf einen weiteren Etappensieg nicht allzu hoch eingeschätzt. Umso größer ist der Respekt vor der Leistung des mittlerweile 39-jährigen Manxman, denn sie beweist, dass er auch in seinen späten Tagen noch gegen die mittlerweile vierte Generation von Sprintern gewinnen kann, gegen die er in seiner Karriere angetreten ist. In unseren Augen ist er zweifelsohne der beste Sprinter aller Zeiten!

Dass er den Rekord an Etappensiegen von Eddy übernommen hat, ist jedoch der einzige Vergleich, der zwischen Mark und Eddy gezogen werden kann. Der Größte aller Zeiten ist Eddy Merckx, der beste Sprinter aller Zeiten ist Mark Cavendish und damit hat es sich.

Afrikanisches Traumszenario

Dass Biniam Girmay als erster Afrikaner gleich die erste Flachetappe – Etappe 3 – gewann, war das perfekte Szenario des afrikanischen Traumfilms. Dass Bini eine Tour-Etappe gewinnen würde, stand eigentlich in den Sternen. Dass er aber schon auf der 8. Etappe ein zweites Mal auf dem obersten Treppchen stand und auch noch im Grünen Trikot fährt, macht das Szenario dieses Films nur noch schöner. Die Tatsache, dass es ausgerechnet bei dieser Tour passiert – einer Tour, bei der fast alle aktuellen, immensen Talente des Profiradsports auf dem Planeten vertreten sind – rundet das Bild ab.

Cavendish schnappt sich den Rekord © A.S.O Charly Lopez
Bini Girmay im Grünen Trikot © A.S.O. Billy Ceusters

Der Remco-Evenepoel-Faktor

Wir vom Cyclelive Magazine verstecken es nicht unter Stühlen, Sofas oder Tischen. Wir sind Belgier und wir sind stolz auf Remco Evenepoel! Mehr noch, wo viele seine etwas explosive und – unserer Meinung nach ehrlichen und direkten Art – als störend empfinden, haben wir sie immer als eine Bereicherung im Peloton gesehen. Keine Heuchelei, kein Herumgerede, um alle zum Lachen zu bringen und sympathisch zu wirken, nein, geradeheraus – wenn es nicht ankommt, dann kracht es – das lieben wir!

Dass er nun auch in seinen Interviews eine gewisse Reife in seine immer noch direkte Art gelegt hat, finden wir gut. Es kommt automatisch mit dem Alter, dass das Ansprechen von Dingen etwas milder wird, und das merkt man auch schon in seiner Kommunikation. Aber er wird auch weiterhin die Wahrheit sagen, wenn auch etwas nuancierter als in den Anfangsjahren.

Was ist also Remcos Wahrheit auf dieser Tour?

Dass er sich bisher sehr gut fühlt, dass er ein wunderbarer Zeitfahrsieger ist, dass er auf einem großartigen zweiten Platz 33″ von Tadej Pogačar liegt und dass die Top Fünf am Ende der Tour auf jeden Fall drin sind. Alles andere – und damit meinen wir die immensen Spekulationen, die seit der vierten Etappe über den Galibier im Umlauf sind – ist Quatsch im Paket!

"Lasst Remco ruhig bleiben!"

Lasst Remco ruhig bleiben!

Schon nach der vierten Etappe wurde häufig gesagt, spekuliert und geschrieben, dass er diese Tour doch noch gewinnen könnte. Wenn man Belgier ist, darf man das träumen, sogar denken, aber nicht sagen oder schreiben. Denn warum sind Journalisten, Kommentatoren oder Chronisten immer so sehr mit populistischen Äußerungen beschäftigt, die dem Fahrer Remco nur Druck und vielleicht einen ‘zu verrückten Kopf’ machen? Als Belgier müssen wir am gleichen Strang/Seil ziehen wie der Fahrer. Und dieses Drahtseil wurde von Remco und seiner Entourage selbst vor dem Start der Tour geschickt gespannt, um mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben und mit den ersten fünf und ganz sicher mit den ersten drei Plätzen zufrieden zu sein! Bleibt dabei, Leute von der Presse! Wenn Remco dann nach der 19. Etappe auf der Isola 2000 immer noch in einer aussichtsreichen Position liegt, könnt ihr anfangen, die Quoten auszurufen.

Trotzdem wollen wir noch eine Weile so weitermachen, aber ohne Illusionen über eine Verbesserung. Immer wieder hat dieselbe belgische Presse gesagt/geschrieben, dass sie keinen Druck auf ihn ausüben wird. Toll! Wenigstens hat es bis zum Ziel in Valloire gereicht! Herzlichen Glückwunsch an alle, die sich an diesen nutzlosen Spekulationen beteiligt haben. Lasst ihn um Himmels willen in Ruhe Rennen fahren. Lasst ihn in Ruhe, wo es keinen Grund gibt, ihn zu stören. Soll er doch mit dem Auto zum Start kommen und seine Sporttasche aus dem Auto nehmen, ohne dass diese lästigen Kameras herumstehen. Muss das wirklich sein? Haben die Zuschauer dadurch wirklich einen Mehrwert? Wollen sie das wirklich sehen? Das muss wirklich überdacht werden….

Remco Gravel © A.S.O. Billy Ceusters
Remco beim Zeitfahren, das er nach seinem Geschmack gewann © A.S.O. Charly Lopez

Pogačar und Vingegaard

Tadej Pogačar war und ist der Top-Favorit auf den Gesamtsieg. Vor Beginn dieser Tour stand er einsam und allein an der Spitze der Favoritenliste. Wir vom Cyclelive Magazine sind jedoch der Meinung, dass Vingegaard derzeit wieder auf gleicher Höhe als Favorit für den Gesamtsieg steht.

Ja, wir haben auch gesehen, dass Tadej in diesem ersten Teil der Tour mit Abstand der Beste war. Ja, er war beeindruckend! Aber, Jonas Vingegaard hat nicht viel Schaden genommen! Er folgt nur 1’15” hinter dem Slowenen und sein Rückstand wird bald aufgeholt. Schon am Samstag wird die Karawane auf der Höhe des Pla D’ Adet ankommen, und von da an wird Pogi mit diesem nur 58 kg schweren dänischen Pitbull einiges zu tun haben. Irren ist menschlich und man vergisst schnell, aber haben wir schon vergessen, wer in den letzten Jahren der mit Abstand beste Bergsteiger war?

"Haben wir schon vergessen, wer der mit Abstand beste Bergsteiger der letzten Jahre war?"

Vingegaard und sein Team nahmen die letzten Tage nur mit einem Ziel in Angriff: so wenig Zeit wie möglich zu verlieren, bevor das Hochgebirge kommt. Jonas hat weniger Zeit verloren, als er im Vorfeld zu träumen wagte. Von nun an ist Pogačar die Beute und Vingegaard vielleicht das eigentliche Raubtier.

Lass die Berge kommen, das wird ein Spektakel.

Pogacar klar der Beste auf der Graveletappe © A.S.O. Billy Ceusters
Vingegaard setzt sich auf dem Col du Galibier ab © A.S.O. Charly Lopez

Das Geheimnis Roglič

Im Cyclelive Magazin 78 schrieben wir, dass es tatsächlich ein ganzes Jahr lang einen Nebel um Rogličs wirkliche Bereitschaft gegeben hat. Nun, dieser Nebel hat sich immer noch nicht gelichtet. Primož liegt derzeit mit 1’36” Rückstand auf dem vierten Platz. In der Tat hat er die Ziellinie immer unbemerkt und in geringem Abstand überquert. Ohne dass er in den Debatten in den Vordergrund getreten wäre.

Wie war das noch mal mit den beiden Hunden und dem Knochen? Es könnte noch eine Weile dauern – so wie es sich anhört – drei Hunde und der Knochen, und vielleicht wird der vierte Hund mitlaufen? Wir glauben nicht, aber bei dem schlauen Roglič weiß man nie ….

Rogilic auf der Straße beim Zeitfahren © A.S.O. Charly Lopez

Genieße jede Fahrt

Eine tolle Tour bisher, mit einem besonders gelungenen Gravelexperiment.

Eine mindestens ebenso spannende Fortsetzung dieser Tour ist eigentlich schon garantiert, vor allem wenn sich die Protagonisten aus der Gefahrenzone heraushalten können. Hoffen wir, dass es ein fairer, offener Kampf bis zum letzten Tag wird und wir als Zuschauer/Anhänger noch zwölf Etappen genießen und mitfiebern dürfen.

Und ja,… ohne Druck zu machen, ohne zu spekulieren, ohne die Erfolgschancen in den Himmel zu schreiben oder zu zerreden,… als Belgier oder Unterstützer von Evenepoel darf man hoffen, dass Remco über sich hinauswächst und in Nizza einen Platz auf dem letzten Podium dieser Tour einnehmen kann. Dass Remco dies an den belgischen Feiertagen schafft, ist ein Traum für viele Sportfans in unserem Land. Vor allem, nachdem viele Belgier eine weitere Enttäuschung mit der Fußballnationalmannschaft erlebt haben.

Hoffen und Träumen ist erlaubt!

Text: Patrick van Gansen

Pogacar ganz in Gelb © A.S.O. Charly Lopez
Jonas Vingegaard © A.S.O. Charly Lopez

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