ABSCHIED VON EINER GROSSARTIGKEIT – MARK SIMON CAVENDISH ODER KURZ: CAV

Muss man einen solchen Mann den echten Radsportfans noch vorstellen? Sicherlich kennt ihn jeder Radsportfan. Jeder Radsportfan weiß, dass er phänomenal sprinten kann. Jeder Kenner weiß, dass er Weltmeister war. Jeder Radsportfan weiß, dass er bei der vergangenen Tour de France den Etappenrekord von Eddy Merckx vom Tisch gefegt hat.

Cyclelive Magazine will den größten Sprinter aller Zeiten noch einmal ins Rampenlicht rücken und einen Überblick über seine reiche Karriere geben.

Cooler Kerl oder ein Idiot?

Mark Cavendish war bis zum 10. November 2024 eine lebende Rennfahrerlegende. Ein reiner Sprinter, der fast alle seine Siege auf der Straße im Massensprint errang. Ein Fahrer, der bei fast allen Radsportfans Emotionen auslöste. In den Augen vieler ein Trottel, in den Augen anderer ein emotionaler, freundlicher und unaufgeregter Typ. Es gibt wohl kaum jemanden, der keine Meinung über die Sprintbombe aus Manx hat. Aber abgesehen von seiner freimütigen Art ist Cavendish ohne Zweifel einer der besten, und für das Cyclelive Magazine – der allerbeste Sprinter, den es je gegeben hat.

„Für uns ist er zweifellos der beste Sprinter, den es je gegeben hat“

Vom Bahnradsportler zum Straßenradsportler

Cavendish wurde 2005 Radprofi und kann wirklich als „Bahnprodukt“ bezeichnet werden, da er auf der Bahn ausgebildet wurde. In seiner Jugendzeit errang er zahlreiche Siege auf der Bahn. Außerdem wurde er 2005, 2008 und 2016 Weltmeister im Mannschaftsrennen. 2005 fuhr er mit Robert Hayles zusammen, 2008 und 2016 mit Sir Bradley Wiggins.

Die Tatsache, dass Cav 2016 auch eine olympische Silbermedaille im Omnium gewann, wird in Belgien manchmal gerne vergessen, aber das unterstreicht den Championstatus der Kanonenkugel noch mehr.

Weltmeistertitel

Zusätzlich zu seinen drei Weltmeistertiteln auf der Bahn wurde er am 25. September 2011 in Kopenhagen auch Weltmeister auf der Straße. Auch 2016 steht er als Zweiter auf dem Podium in Katar, wo Peter Sagan zum zweiten Mal das Regenbogentrikot überstreifen kann.

Erste Tour de France 2007

Nachdem er 2005 Profi geworden ist, fährt er bei der Tour de France 2007, die in London beginnt, seine erste große Rundfahrt in den Farben des T-Mobile Teams. Auf der4. Etappe Waregem-Compiègne taucht er zum ersten Mal in den Top Ten der Tageswertung auf. Vor ihm liegen die besten Sprinter der Zeit wie Fabian Cancellara, Erik Zabel, Tom Boonen, Robbie McEwen, Bernhard Eisel. Auf der 8. (alpinen) Etappe Le Grand Bornand-Tignes steht DNF hinter seinem Namen. Aber er kommt zurück und wie!

Cavendish holt sich die Rekordzahl an Etappensiegen bei der Tour de France © A.S.O Charly Lopez
© A.S.O. Jonathan Biche

Einzelserien in den Jahren 2008-2018

Zwischen 2008 und 2013 startet Cavendish fünfmal beim Giro d’Italia und bringt 17 Etappensiege auf den Zähler (2008: 2, 2009: 4, 2011: 3, 2012: 3, 2013: 5 inklusive Siege in der Punktewertung). Hinzu kommen die beiden Mannschaftszeitfahren in den Jahren 2009 und 2011. Bei der Tour de France gibt es eine ununterbrochene Serie von 12 Teilnahmen zwischen 2007 und 2016 mit 30 Etappensiegen. (2008: 4, 2009: 6, 2010: 5, 2011: 5, 2012: 3, 2013: 2, 2015: 1, 2016: 4). Bei der Vuelta a España startet er zweimal. 2010 gewinnt er vier Etappen, darunter 1 Mannschaftszeitfahren und das Punktetrikot, 2011 verzeichnet er einen Abbruch. Der Gesamtsiegszähler steht dann bei Tour: 30, Giro 17 und Vuelta 4 macht insgesamt 48. In den Jahren 2017 und 2018 bleibt die Ausbeute bei null.

Die Jahre 2021, 2022, 2023

Im Dezember 2020 unterschreibt Cavendish einen Vertrag mit dem Team Deceuninck-Quick Step. Er nimmt als 36-Jähriger an der Tour teil und ersetzt Sam Bennett. Unter Patrick Lefèvre scheint er wieder zu seinem vollen Potenzial aufzublühen. Er überquert die Ziellinie viermal als Etappensieger und gewinnt auch die Punktewertung. Was für ein Ersatzmann! Mit seinen 34 Tour de France-Etappensiegen zieht er dann mit Eddy Merckx gleich. Im Jahr 2022 wird Fabio Jakobsen als Sprinter im Tour de France-Team bevorzugt. Dann zum Giro d’Italia mit Start in Budapest. Er enttäuscht das Team nicht. Rund um den Balaton in Ungarn holt er auf der dritten Etappe gleich einen weiteren Etappensieg und lässt Arnaud Démare und Fernando Gaviria hinter sich. Beim Giro d’Italia 2023 (Astana) ließ Cavendish am letzten Tag in Rom alles auf sich zukommen. Eine solche Schlussetappe bringt normalerweise nicht viel ein. Einen Tag zuvor verdrängte der Slowene Roglic den Briten Thomas in einem fantastischen Bergzeitfahren von Rosa. Damit ist das Klassement entschieden und es bleibt nur noch die Schlussetappe, die den Sprintern vorbehalten ist. Was wir zu sehen bekommen, ist nicht nur ein Sprint, sondern auch ein Stück Kameradschaft.

Es ist Cavs Freund und ehemaliger Teamkollege Geraint Thomas, der auf den letzten Kilometern die Führung übernimmt und das Tempo hoch hält, um Cavendish in einer idealen Position abzusetzen. Das Spiel hat Erfolg. So schön kann Radsport sein! Mit einem 120. Platz, seiner besten Platzierung bei Giro, Tour und Vuelta, kann Cavendish zufrieden seine Koffer packen. Wenn er bei Astana für 2023 unterschreibt, ist ihm die Tour de France sicher. Die Dinge laufen nicht gut für ihn, denn auf der achten Etappe Libourne-Limoges muss er nach einem Sturz das Feld verlassen. Die Bilanz sieht dann wie folgt aus: Giro d’Italia 19, Tour de France 34 und Vuelta 4 ergibt insgesamt 57. Cipollini steht ebenfalls bei 57 und Merckx ist und bleibt der Spitzenreiter mit (offiziell) 64 Siegen.

Sieg auf der 6. Etappe des Tirreno - Adriatico 2022 © Tim De Waele

Apotheose mit roter Laterne im Jahr 2024

Obwohl er 2023 gesagt hat, dass es sein letztes Jahr sein würde, kommt er darauf zurück und so wird er am 29. Juni in Florenz bei seiner 15. Tour de France. Ziel ist es, den Rekord von 34 Etappensiegen zu verbessern, den er derzeit mit Eddy Merkcx teilt. Natürlich stellt sich die Frage, ob ein solches Ziel für einen 39-Jährigen realistisch ist.

Nachdem die erste Sprintetappe von Biniam Girmay gewonnen wurde, ist Cavendish auf der fünften Etappe von St-Jean-de-Maurienne nach Saint-Vulban (177 km) bereits in Fahrt gekommen. In der Reihenfolge schlägt er seine Sprintkollegen Jasper Philipsen, Alexander Kristoff, Arnoud De Lie und Fabio Jakobsen. Eine niederländische Zeitung titelte treffend: „Sprintveteran hat seine Mission bei der Tour erfüllt“. Dafür wurde er in die Astana-Mannschaft geholt, um dieses Kunststück in deren Farben zu vollbringen. Der Rekord von 35 Etappensiegen bei der Tour de France ist erreicht und wird in die Geschichtsbücher eingehen. Alles andere ist dann nur noch eine Frage des Prestiges: ausfahren. Mit anderen Worten: Es liegen noch mehr als 2.500 Kilometer vor den Rädern. Nach seinem Sieg liegt er in der Gesamtwertung mit 1h37’40“ auf Platz 170. Von den 176 gestarteten Fahrern sind also noch 174 im Rennen. Um es kurz zu machen: Er kann beim letzten Zeitfahren in Nizza starten. Er wird dann mit 6h13’57“ auf dem 140.und vorletzten Platz liegen. Nur sein Teamkollege Davide Ballerini liegt noch mehr als eine Minute hinter ihm. Dann geht es um die Punkteverschiebung zwischen den beiden Männern. Cavendish verzeichnet einen Rückstand von 09’14„ (134.) und Ballerini 07’46“ (113.). Damit wird die rote Laterne an Cavendish weitergegeben. Neben allen Klassifizierungssiegern wird auch Cavendish auf dem Ehrenpodest geehrt. Damit ist sein Kapitel geschlossen. Wer wird den neuen Rekord brechen? Pogačar, der noch viele Jahre vor sich hat, ist mit 17 Etappensiegen bei der Tour auf einem guten Weg!

So schwer fällt der Abschied

Wegen der Corona-Epidemie gab es 2020 nur wenige Rennen. Im Alter von 35 Jahren konnte Cavendish keinen neuen Vertrag mehr mit seinem Arbeitgeber Bahrain-McLaren abschließen. In Gent-Wevelgem, seinem letzten Rennen für Bahrain-McLaren, mischte sich Cavendish unter die Ausreißer des Tages, um sich noch einmal ins Rampenlicht zu fahren. Nach dem Zieleinlauf sagte er unter Tränen: „Das könnte das letzte Rennen meiner Karriere sein.“

Doch das konnte Patrick Lefevere nicht auf sich sitzen lassen, der seine Chance sah, Cavendish ein weiteres Mal zu Höchstleistungen zu treiben. Patrick bot Mark einen Einjahresvertrag bei Deceuninck-Quick-Step an, und was außer Lefevere niemand mehr von ihm erwartete, trat ein. Bei der Türkei-Rundfahrt 2021 gelang es Cav, seine ersten Siege seit drei Jahren zu erringen, wobei er gleich vier Etappen gewann – ein Vorbote dessen, was noch folgen sollte. Wiedergeboren bei Omega Pharma-Quick-Step, gewann der nun 36-jährige Cavendish vier Etappen und das Grüne Trikot bei der Tour de France 2021.

Er erhielt einen neuen Vertrag für 2022, aber das Team von Lefevere zog Fabio Jacobsen als Sprinter für die Tour vor. Cavendish war sehr enttäuscht, dass er Merckx’ Rekord nicht würde brechen können, und begann am Ende der Saison, sich nach einem neuen Team umzusehen. Der Traum, selbst Rekordhalter zu werden, verließ ihn offensichtlich nicht. Erst Mitte Januar 2023 bot das Team Astana Qazaqstan dem britischen Meister einen Vertrag für eine Saison an. Seinen ersten und einzigen Sieg in der Saison 2023 errang Cavendish auf der Schlussetappe des Giro d’ Italia, bei dem er zuvor angekündigt hatte, dass er am Ende der Saison als Radprofi aufhören würde…

Bei der Tour de France, bei der Cav seinen 35. Etappensieg anstrebte, schlug das Schicksal zu, und zwar bei seiner letzten Tour. Er stürzte auf der achten Etappe und musste die Tour mit einem Schlüsselbeinbruch verlassen.

© A.S.O Charly Lopez
Bei der Türkei-Rundfahrt 2021 holt Mark nach dreijähriger Durststrecke wieder einen Sieg © Tim De Waele

Rekorde sind eben doch wichtig

Der Drang, den Rekord von Eddy Merckx zu brechen und Einzelrekordhalter zu werden, war zu stark, und Ende 2023 kam die Nachricht, dass er 2024 im Astana-Team einen weiteren Anlauf auf den Tour-de-France-Etappenrekord nehmen wird. Am 3. Juli 2024, im Alter von 39 Jahren, hat er es geschafft, den Drang/Traum, nur Rekordhalter zu werden, zu verwirklichen.

Mark Cavendish ist der lebende Beweis dafür, dass im Radsport Lebensläufe, Rekorde und Vergleiche mit der Vergangenheit eine Rolle spielen. Wie sonst lässt sich sein enormer Ehrgeiz erklären, den Rekord von Eddy Merckx – 34 Etappensiege bei der Tour – noch zu brechen und alleiniger Rekordhalter zu werden? Es bedeutete Cavendish einfach sehr viel, diesen Rekord zu brechen.

„Ein enormer Antrieb, diesen Rekord von Eddy Merckx noch zu übernehmen“

Allzeit-Rangliste:

Zum Schluss fügen wir noch ein paar triviale Fakten hinzu, die nicht jeder auswendig wissen wird: Mark Cavendish liegt auf Platz 26 der ALL TIME RANKING von ProCyclingStats. Damit ist er nur einen Platz besser als Mario Cipollini. Cavendish hat insgesamt 165 professionelle Siege errungen, was ihn in der All-Time-Rangliste der professionellen Siege auf Platz zwei bringt. Das unterstreicht die Größe des besten Sprinters aller Zeiten mit einer dicken Markierung!

Rangliste der professionellen UCI-Siege:

1. Eddy Merckx: 279 Siege

2. Mark Cavendish: 165 Siege

3. Mario Cipollini: 163 Siege

Es sollte also klar sein, wie wichtig diese Statistiken für Cavendish sind. Ja, denn er hat 2024 drei UCI-Siege errungen, Cipollini auf den zweiten Platz verdrängt und ist damit auch alleiniger Rekordhalter der Tour-Etappensiege. Mark Cavendish hatte einen klaren Plan, bevor er aufhörte: den Rekord und den zweiten Platz in der Gesamtwertung der Siege zu erobern. So geschah es, und nun kann er sich als Fahrer mit voller Zufriedenheit verabschieden, zumindest… wenn er es sich nach den Ferien nicht wieder anders überlegt….

„Mark würde nicht aufhören, bis er auch den zweiten Platz in der Allzeit-Rangliste erobert hätte“

Wichtigste Siege

35 Fahrten Tour de France ’24, ’21, ’16, ’15, ’13, ’12, ’11, ’10, ’09, ’08

17 Fahrten Giro d’Italia ’23, ’22, ’13, ’12, ’11, ’09, ’08

3 Fahrten Vuelta a España 2010

1 x Straßenweltmeister 2011

1 x Mailand-Sanremo 2009

3 x Scheldeprijs 2011, 2008, 2007

2 x Punkterangliste Tour de France 2021, 2011

2 x Endklassement Tour of Qatar 2016, 2013

Endklassement Dubai Tour 2015

3 Fahrten Tirreno-Adriatico 2014, 2012, 2009

3 Fahrten Tour of Switzerland 2014, 2009)

2 x Kuurne-Brüssel-Kuurne 2015, 2012

Text: Teus Korporaal und Patrick Van Gansen

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